Donnerstag, 01. September 2022

Unvergleichliche Erlebnisse mit allen Sinnen

 

Das Internat der Landesschule für Blinde und Sehbehinderte Neuwied unterwegs auf der 9. Segelfreizeit

Auch wenn dies für den außenstehenden Betrachter erst einmal seltsam bzw. vordergründig „gefährlich“ erscheint, ist eine Segelfreizeit - da sind wir, das Segelteam des Internates der Landesschule für Blinde und Sehbehinderte Neuwied uns sicher - eine perfekte Möglichkeit für blinde und (stark) sehbehinderte Kinder und Jugendliche, mit allen Sinnen unterwegs zu sein (vgl. Konzept „Sail away!“ von Sonja Etteldorf/Rainer Garburg zum VBS Kongress in Graz 2013).

Aus diesem Grund waren wir in diesem Jahr sehr froh, seit 2005 die neunte Freizeit dieser Art anbieten zu können. Regulär findet die Segelfreizeit alle zwei Jahre statt, coronabedingt mussten wir allerdings 2021 pausieren.

So ging es nach kürzerer, aber wohl überlegter und nicht weniger intensiver Vorbereitung im Juni 2022 für 17 Schüler:innen im Alter von 10 bis 20 Jahren und 9 Pädagog:innen im großen Reisebus Richtung Abfahrtshafen Makkum, direkt am Abschlussdeich des Ijsselmeeres Richtung Wattenmeer gelegen.

Die Segelgruppe auf der Utopia
Die Segelgruppe auf der Utopia

Das erste Highlight wartete bereits um die Mittagszeit in Lelystad: die Bataviawerft. Die Batavia selbst ist ein prächtiger Nachbau eines Ostindienseglers aus dem 17. Jahrhundert. Das Originalschiff sank 1629 vor Australien auf seiner ersten Fahrt nach Indien. Unter fachkundiger Führung wurde den Kindern und Jugendlichen das riesige Schiff mit den dazugehörigen Werkstätten blinden- und sehbehindertengerecht erlebbar gemacht. Vieles konnten wir selbst ausprobieren und spielerisch erfahren.

Voller Begeisterung fuhr die Segelgruppe im Anschluss noch eine weitere Stunde, bis wir unser Plattbodenschiff, die Utopia mit Kapitän Henri van Dijk und Matrose Jakob erreichten. Henri kennen wir bereits seit vielen Jahren, auch mit Jakob sind wir schon 2007 gesegelt. Das Schiff Utopia war jedoch neu für uns und musste erst „erobert“ werden. Dies geht trotz Sehbeeinträchtigung sehr einfach. Auf einem solchen Schiff findet man sich nämlich „blind“ zurecht. Das gilt für alle Bereiche auf und unter Deck. Man kann sich nicht verlaufen! Gefahrenquellen werden erläutert und so sind die Bedingungen ideal.

Schon am nächsten Tag stellte sich heraus, wie genial eine Segelfreizeit für blinde und sehbehinderte Menschen sein kann. Der Wind ließ uns zwar komplett im Stich,

aber es gab herrliche Bedingungen zum sogenannten „Trockenfallen“. Unter Motor passierte die Utopia die Schleuse hinaus aufs Wattenmeer in Richtung einer geeigneten Sandbank. Bei strahlendem Wetter wurde dort der Anker geworfen und nach ein paar Stunden Chillen an Deck lag das Plattbodenschiff sicher auf Grund. 

Jetzt konnten alle hinaus ins flache, später nur noch knöcheltiefe Wasser. Wo gibt es sonst die Gelegenheit, dass blinde Kinder und Jugendliche, zum Teil mit geistigen Beeinträchtigungen solche Erfahrungen machen können? Selbst Kanufahren, ein Schiff von unten fühlen, endlos Muscheln sammeln, ohne Hindernisse die Umgebung erkunden. Größtmögliche Freiheit!

Beim Trockenfallen wir die Utopia greifbar
Beim Trockenfallen wird die Utopia greifbar.

 

Mit aufkommender Flut wurde die Fahrt später noch einmal fortgesetzt, um den endgültigen Liegeplatz auf offener See zu erreichen. Ein Barbecue an Deck mit anschließender Party rundete den Tag ab. Ein Tag voller Abenteuer! Und das Besondere: Die Abenteuer passierten direkt auf dem Schiff oder kamen ganz dicht heran, ohne dass wir etwas tun mussten.

Die nächsten beiden Tage brachten uns sodann gutes, auf die Zusammensetzung unserer Gruppe bestens zugeschnittenes Segelwetter. Bei ein wenig Wind konnten alle nach ihren Möglichkeiten beim Segelsetzen mithelfen. Entscheidend ist es dabei, wörtlich gesehen, an einem Strang zu ziehen. Schnell wird klar, dass es nicht auf intellektuelle Leistungen, sondern auf Kraft, Geschicklichkeit, Cleverness und Teamfähigkeit ankommt. Hier ist nicht wichtig, aus welchem Bildungsgang man kommt, sondern wie man sich einbringen kann. Gelebte Inklusion innerhalb einer Einrichtung.

Jede Arbeit ist wichtig
Jede Arbeit ist wichtig.

Unsere Anlaufhäfen am Freitag und Samstag hießen Terschelling und Vlieland, beides Westfriesische Nordseeinseln. Während auf Terschelling das Oerol-Festival mit stimmungsvollem Erleben von Musik und spannenden Aktionen auf die Segelgruppe wartete, ging es auf Vlieland entspannt und ruhig zu. Beide Male konnte auch ausgiebig in den Hafenstädtchen gebummelt werden. Strandbesuche kamen auch nicht zu kurz.

Voller Eindrücke ging es am Abschlusstag unter Segelkraft wieder nach Makkum zurück. „Im Gepäck“ tolle Erlebnisse und Erfahrungen mit allen Sinnen. Für den einen war es das Foto mit dem Kapitän, das die Freizeit besonders machte, für die andere das Klüvernetz ganz vorne am Schiff oder das Tanzen mitten in der Musikkapelle auf Terschelling und nicht zuletzt erfahren zu dürfen, wie es ist, ein so großes Schiff alleine einmal zu steuern.

Um zum Anfang zurückzukommen: Eine Segelfreizeit ist das perfekte Freizeitmedium für blinde und sehbehinderte Menschen. Wem der Sehsinn fehlt, der/die genießt mit den weiteren Sinnen umso intensiver!

 

Für das Segelteam des Internates der Landesschule für Blinde und Sehbehinderte Neuwied

Michael Fries,
Heilerziehungspfleger, Inklusionspädagoge